Dienstag, 20. März 2012

Artikel aus der FR

Dieser nette Artikel stand heute in der Frankfurter Rundschau.

besonders nette fand ich den "Ich-kann-nicht-singen"-Chor und...
..."dieses seltsame Ding Stimme gehört zwar unverwechselbar zur Identität des Sängers wie der Körper, aus dem sie kommt, und ist dennoch kein Körperteil...

LEITARTIKEL
Das Wunder der Stimme: Chorgesang boomt

Die Fähigkeit, Musik zu hören, wird durch das Musikmachen, durch das Erzeugen und Erleben von Klängen aus dem Ensemble heraus geübt, nicht durch den Musikunterricht in der Schule. Plötzlich boomt, was jahrelang verpönt war: Ausgerechnet der Chorgesang hat das Tal seiner Missachtung nun durchquert.


Foto: dpa

Obwohl allenthalben behauptet wird, dass Musik Intelligenz und soziale Kompetenz fördern würde, liegt der Musikunterricht in der Bundesrepublik im Argen. Einige Bundesländer kürzen das Fach von zwei auf eine Stunde pro Woche herunter, erkennen damit aber auch nur die Realität an, dass landauf, landab Musiklehrermangel herrscht und zwei Wochenstunden oft nicht gegeben werden können. In Städten wie Berlin erhalten zudem die Musikschulen eine neue Honorarordnung, deren höhere Sätze für die Unterrichtsstunde vermutlich mit einer Einschränkung des Angebots kompensiert werden müssen – während 8.000 Menschen auf einen Platz in den Musikschulen warten!

Das Bedürfnis, Musik zu machen, bricht sich jedoch diesen Widrigkeiten zum Trotz Bahn. Die Rede ist vom Singen im Chor. Aufmerksamen Beobachtern ist in Frankfurt nicht entgangen, dass sich seit ein paar Jahren neue, zum Teil junge Chöre gründen. Oder das Singalong zu Weihnachten: Mehrere hundert Sänger kommen nach dem Fest zusammen, noch nie gemeinsam gesungen, nur die Noten in der Hand – und intonieren Bachs Oratorium mit einer Inbrunst, dass kein Auge trocken bleibt. Noch kurioser ein Beispiel aus Berlin. Der Zweitliga-Verein Union veranstaltet seit 2003 in seinem Stadion An der Alten Försterei ein Weihnachtssingen – was mit 89 Sangeswilligen begann, zog 2011 bereits 18.000 Fans an; mittlerweile ist auch ein Pfarrer dabei und gibt dem ganzen einen besinnlichen Zuschuss.

Peter Uehling

Lange schien es, als wäre Chorgesang ein aussterbendes Genre, das nur noch im Rahmen von Kirchengemeinden und trinkfesten Männerrunden mehr schlecht als recht gepflegt wird. Das Image war entweder peinlich – man denke an die Fischer-Chöre – oder ideologisch verdächtig: Wo Massen sangen, witterte man Gleichschaltung und falsches Gedankengut.

Das Tal seiner Missachtung hat der Chorgesang nun durchquert. Der Deutsche Chorverband zählt 27.000 Chöre mit knapp 750.000 Sängern in seinem Register. Mittlerweile werden zahlreiche Chorfeste veranstaltet, auf denen Laienchöre neben Profichören auftreten, das nächste findet im Juni in Frankfurt am Main statt, mit 600 Konzerten an vier Tagen.

Chor kann Fehler im Musikunterricht ausgleichen

Die Gründe für die Lust am Singen sind so vielfältig wie die Programmatik der Chorgemeinschaften. Es gibt semiprofessionelle Gruppen mit hohem Leistungsanspruch, die bei Wettbewerben in Konkurrenz treten. Beim offenen Singen nach Art des Singalong geht es wohl noch am ehesten um Ansprache des Gemüts. Und bei den neuen Chören weniger um ein bühnenreifes Repertoire, sondern um ein Bildungserlebnis – allerdings eins der besonderen Art: Man entdeckt die Möglichkeiten des eigenen Körpers und eine eigentümliche Existenzform des Geistes. Dieses seltsame Ding Stimme gehört zwar unverwechselbar zur Identität des Sängers wie der Körper, aus dem sie kommt, und ist dennoch kein Körperteil, sondern Erscheinung von Sprache und Melodie, also von etwas Geistigem. Der Schweizer Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat vor 90 Jahren herausgefunden, dass Kinder glauben, man denke mit dem Mund: Ein schöner Ausdruck für das Wunder der Stimme.

Der Chor- und Singboom kann Fehlentwicklungen des schulischen Musikunterrichts ausgleichen. Der Schwerpunkt auf Musikgeschichte und -theorie ab der 5. Klasse hat für den Stellenwert der Musik in der Gesellschaft nichts bewirkt, den Orchestern und Opernhäusern ist dadurch kein jüngeres Publikum zugewachsen. Die Fähigkeit, Musik zu hören, wird durch das Musikmachen, durch das Erzeugen und Erleben von Klängen aus dem Ensemble heraus geübt, nicht durch das Lernen von Biografien. Damit korrigiert die neue Freude am Chorgesang auch die Degenerierung des Musiklebens zu ausschließlich performativen Formen, in denen die einen nur aufführen und die anderen nur zuhören.

Das hat nun auch die Politik begriffen. In Hessen empfiehlt das Land den Grundschulen die Teilnahme an Primacanta, das Jungen und Mädchen dazu bringen soll, die eigene Stimme zum Musizieren zu gebrauchen. In Berlin ist es die Initiative „Klasse, wir singen!", bei der die Schüler im Unterricht täglich Lieder üben, die dann mit einer Band aufgeführt werden. Im letzten Jahr wurde dieses von einem Braunschweiger Kirchenmusiker angestoßene Projekt mit Erfolg in Niedersachsen durchgeführt: Neue Schulchöre wurden gegründet, bestehende erfuhren Zulauf.

Nichts geht verloren, alles kehrt wieder, wenn auch verwandelt: Heute feiert Deutschlands berühmtester Schulchor, der Leipziger Thomanerchor, seinen 800. Gründungstag. Er ist das Nebenprodukt eines Schulsystems, das der Musik eine zentrale Rolle für die Entwicklung des Menschen einräumte. Das war nicht dumm. Wie konnten wir diese Einsicht nur so lange und gründlich verdrängen?

Ana